The Secret Of Blue Water: Erste Liebe

Ich war dreizehn, als ich mich zum ersten Mal verliebt habe. Sie hieß Nadia, war auch dreizehn, eine Waise auf der Suche nach ihrer Vergangenheit, eine Zirkusartistin, und viel erwachsener, als ihr Alter es nahelegt. Ich war Jean Roq Raltigue, wollte Erfinder werden, und hatte keinen Schimmer davon, wie Mädchen ticken.

Marie, King, Jean und Nadia.

Im Frühjahr 1996 lief eine Zeichentrickserie namens Die Macht des Zaubersteins auf RTL 2, wo seit einiger Zeit jeden Nachmittag ein umfangreiches Kinderprogramm stattfand. Viele der Serien waren japanische Animes, aber das erfuhren ich und viele andere Fans erst später. Auch der Zauberstein zählte dazu, aber da die Geschichte in Frankreich stattfand, und es damals kein Internet gab, in dem ich mich genauer hätte informieren können, ging ich lange Zeit davon aus, dass es wohl eine französische Serie sein müsste.

Es gibt Dinge, die das Leben in ein Vorher und ein Nachher einteilen. Die Macht des Zaubersteins war das erste derartige Erlebnis, das ich in meinem Leben hatte. Vor allem war es die Tatsache, dass ich zuvor nie eine Geschichte von diesem Ausmaß gekannt habe – ein Gefühl, dass zum Beispiel Verehrer von Harry Potter oder dem Herrn der Ringe bestimmt gut nachfühlen können. Bis zu diesem Zeitpunkt war eine Zeichentrick-Folge für mich ein geschlossenes Stück Unterhaltung Captain Planet, die Turtles, und wie sie alle hießen, erlebten ein Abenteuer pro Episode, und dann war in der nächsten wieder alles beim Alten. Das Abenteuer von Jean und Nadia hingegen entwickelte sich über 39 Folgen, also acht Wochen, und ermöglichte es mir, wie noch nie zuvor in eine Geschichte einzutauchen. Denn das war das neue: Die ganze Serie erzählt eine einzige Geschichte. Zwar mit ein paar Lückenfüllern, im Großen und Ganzen aber gehörte alles zusammen. Verpasste man eine Episode, konnte man der Handlung nicht mehr richtig folgen. Für mich, und eigentlich für alle, deren Zeichentrick-Erfahrung sich zu dieser Zeit auf das beschränkte, was die deutsche Fernsehlandschaft hergab, war das eine absolute Neuheit – die man sich heute kaum noch vorstellen kann.

Japanisches DVD-Cover.

Dazu kommt die großartige Qualität der Geschichte und ihrer Charaktere: Mit Jean konnte ich mich identifizieren, Nadia anhimmeln, und den kleinen Tiger King niedlich finden. Wie fantastisch die Handlung als solche ist, lässt sich hingegen kaum in Worte fassen, ohne zu spoilern – und soviel steht fest: Eine Serie wie diese wirkt am besten, wenn man gar keine Ahnung hat, wo die Reise hingeht. Nur soviel: Es ist eine dieser Geschichten, die irgendwann mit Getöse ein Tor aufreißen und mit einem einzigen Satz die Welt um ein Vielfaches vergrößern. Was man am Ende zu sehen bekommt, kann man sich am Anfang jedenfalls im Traum nicht vorstellen.

Und diese Serie thematisierte Dinge, die ich so in Kinderserien noch nicht erlebt hatte: Erste Liebe, Mord, Vaterkonflikte, den Verlust geliebter Menschen, Krieg, Vegetarismus, und sogar (wenn auch nur ganz sachte) Sexualität. So kann ich durchaus sagen, dass Die Macht des Zaubersteins mein Erwachsenwerden in vielerlei Hinsicht geprägt hat.

Ohne eine Möglichkeit, die Serie zu „behalten“, verblasste die Erinnerung allerdings bald wieder. Irgendwann konnte ich mich nur daran erinnern, dass etwas ganz Unfassbares am Ende passierte, aber ich hatte tatsächlich vergessen, was es war. Ganze Serien auf Video gab es schlichtweg nicht, die Wiederholung, die ich mit dem Videorecorder hätte aufnehmen können, verpasste ich schlichtweg.

Erinnerungen.

Es hätte gut sein können, dass ich die Serie trotz ihrer Bedeutung für mich ganz vergessen hätte – bis ich über mehrere Ecken einen „Ur-Otaku“ kennenlernte, der sich schon seit den Achtzigern mit Anime beschäftigte. Und er hatte die Serie tatsächlich aufgenommen – und fertigte für mich Kopien an. Ich konnte The Secret Of Blue Water, so offenbar der Originaltitel, endlich noch einmal sehen.

In der Folgezeit passierten spannende Dinge: Ich war so begeistert, dass ich einen Fansub anfertigte, eine Website über die Serie veröffentlichte, und daraufhin schon kurze Zeit später von einem DVD-Label angeschrieben wurde, ob ich nicht Lust hätte, an der Bearbeitung der DVD-Fassung mitzuarbeiten. Es war eine spannende Zeit, in der ich eine neue deutsche Übersetzung lektorierte, Werbetexte verfasste, und sogar einen Satz in einer kleinen Nebenrolle synchronisieren durfte. Mit dem Endprodukt war ich aber letztlich nicht ganz zufrieden, aber soweit, das zu ändern, reichte mein Einfluss eben doch nicht. Seitdem habe ich die Serie tatsächlich nicht mehr gesehen – die DVD-Fassung nervte mich ob ihrer Qualitätsmängel, meinen alten, bei WinMX heruntergeladenen Videos hatte ich nicht mehr, und eine wirklich gute Fassung war nirgendwo in Aussicht. Und dann geriet Nadia wieder in Vergessenheit. Bis ich vor wenigen Tagen irgendwie auf die Idee kam, mal zu schauen, ob ich mir nicht eine ausländische Blu ray organisieren könnte: Nur eine Woche zuvor war offenbar tatsächlich eine deutsche Neuauflage erschienen, die sämtliche Fehler der vorherigen DVD korrigierte. Ein bisschen wehmütig bin ich schon, dass ich diesmal an der Produktion nicht beteiligt war – aber was soll‘s. Nadia ist wieder da. Das ist alles, was mir im Moment durch den Kopf geht.

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