Noël

Und wieder sehe ich das kleine Kerlchen an, dass da so selbstbewusst, aber auch etwas verträumt auf meinem Sofa liegt. Ungefähr zwei Jahre soll er alt sein, schätzt man. Wissen kann man es nicht, denn alles, was Noël bis zur Weihnachtszeit 2018 erlebt hat, wird für immer ein Geheimnis bleiben.

Fest steht, dass er kurz vor dem Fest an einer Futterstelle des Vereins Artemis – Streunerhilfe in Marousi auftauchte. In diesem Vorort von Athen, Griechenland, so viele hundert Kilometer von hier entfernt, suchte er ein Plätzchen zum Schlafen und etwas Futter. Niemand weiß, wo er herkam und was er bis dahin erlebt hat. Er scheint den Mitarbeiterinnen des Vereins zu freundlich, zu naiv, um ein erfahrener Streuner zu sein – auch sein gepflegter Zustand weist darauf hin, dass der kleine, etwas dicke Kater ausgesetzt wurde. Wie er heißt, wann er geboren wurde – niemand weiß es. Zumindest kann man aufgrund seines Zustandes und seiner ungewöhnlichen Freundlichkeit und Anhänglichkeit davon ausgehen, dass es ihm dort, wo er herkam, nicht schlecht ging. Ob sein gelegentliches, etwas unappetitliches Niesen der Grund war, ihn auszusetzen, ob jemand seiner einfach überdrüssig wurde, oder ob es halbwegs vernünftige Gründe gab, sich von ihm zu trennen, wird ebenfalls ein Geheimnis bleiben – so oder so hätte allerdings auch der nachvollziehbarste und vernünftigste Grund, sein Haustier abzugeben kein kommentarloses Aussetzen gerechtfertigt.

Etwa zu selben Zeit betrauerte ich meinen Kater Kafka, bei dem Mitte Dezember mehrere Geschwüre diagnostiziert wurde, und der durch den Bastard Krebs buchstäblich von einem Tag auf den anderen aus dem Leben gerissen wurde. Schon Jahre vorher hatte ich beschlossen, einem neuen Kater oder einer Katze ein Zuhause zu geben, wenn eines Tages nur noch eines meiner Tiere übrig sein würde. Dieser Moment war mit Kafkas Tod gekommen. Der Verein Bochumer Katzenhilfe erschien mir als sinnvoller Ansprechpartner – ich wollte das Tier nicht einfach nach meinem persönlichen Geschmack auswählen, sondern ein Tier empfohlen bekommen, das Hilfe braucht, und gut zu Hide und mir passen würde. Dort vermittelte man mich an Artemis weiter. Der Verein arbeit seit 2013 in Marousi und konzentriert sich vor allem darauf, die dortige hohe Population an Streunerkatzen mit einem Kastrationsprogramm in den Griff zu kriegen. Zudem werden immer wieder Katzen, die aufgrund von Krankheiten, Behinderungen oder ganz allgemein ihres Wesens nicht für das Leben auf der Straße geeignet sind, aufgenommen, gepflegt, und vermittelt.

Zwei Katerchen kamen in Frage: Noël und Dionysos. Letzterer war ein goldiger roter Kater, der Kafka sehr ähnlich sah, und eine kleine Behinderung an der Pfote hatte.

Mich zwischen Dionysos und Noël zu entscheiden war eine der schwierigsten Entscheidungen meines Lebens: Beide Tiere hatten ein gutes Zuhause verdient, und wäre es nicht egoistisch, mich gegen den Kater mit der Behinderung zu entscheiden? Wäre es nicht aber andererseits genauso unvernünftig, mich allein aus Mitleid FÜR ihn zu entscheiden, wenn ich riskierte, seinen Bedürfnissen vielleicht nicht gerecht werden zu können? Das waren die Gedanken, die mir durch den Kopf gingen. Letztlich entschied ich mich, nicht ohne einen Anflug von schlechtem Gewissen, für Noël. Wie man mir sein Wesen und sein Verhalten schilderte ließ mich vermuten, dass er rein charakterlich tatsächlich besser zu Hide passen würde. Außerdem konnte ich ja wirklich nicht sicher sein, ob ich Dionysos die Pflege und Aufmerksamkeit zukommen lassen konnte, die er mit seinem Pfötchen benötigte. Und noch ein Argument war wichtig: Dionysos brauchte noch eine Menge Pflege vor Ort, und würde wohl erst im April oder Mai zu uns kommen – ich wollte aber, dass Hide möglichst schnell wieder Gesellschaft bekommt, so dass er sich nicht ans Alleinsein gewöhnt.

Einige Wochen vergingen noch, in denen ich mit Doris von Artemis in Kontakt stand, immer wieder über Noëls (und auch Dionysos‘) Zustand informiert und mit vielen liebenswerten Bildern und Videos versorgt wurde. Und dann stand irgendwann der Termin fest: Am 25. Februar, dem Tag, den ich später zu Noëls Geburtstag erklären würde, sollte er zusammen mit drei weiteren, teilweise bereits vermittelten Katzen die Reise antreten. Sieben Stunden wurde er in seinem Körbchen zu Fuß, mit dem Auto und dem Flugzeug durch die Gegend transportiert, bis wir uns dann am Düsseldorfer Flughafen zum ersten Mal sahen.

Drei Monate sind seitdem vergangen, und Noël hat sich gut eingelebt. Ich glaube nicht, dass er und Hide jemals ein so enges Verhältnis aufbauen wie es einst Hide und sein Bruder Kafka hatten – aber es klappt mit den beiden immer besser. Sie gehen sich meist noch aus dem Weg, manchmal prügeln sie sich auch ein wenig, aber keiner hat Angst oder Aggressionen dem anderen gegenüber. Manchmal putzen sie einander, manchmal liegen sie aneinandergedrückt auf dem Sofa – und dann fliegen wieder Fellfetzen.

Hide ist jetzt fast fünfzehn Jahre alt. Er hat in den letzten Monaten sichtbar abgenommen, ist aber laut Arzt in einem altersgemäß guten Zustand. Noël niest immer wieder mal, und wird damit vermutlich auch nicht mehr aufhören. Außerdem hat er kleine Deformationen an einer Zehe und seiner Schwanzspitze – beides aber völlig harmlos.

Ich hoffe, uns dreien sind noch einige gemeinsame Jahre beschieden. Und wenn Hide uns irgendwann einmal verlassen muss, werden wir wieder einen Streuner willkommen heißen.

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