Mein Kater Kafka

Nie im Leben hatte ich so große Panik wie an diesem Tag im Sommer, als ich abends beim Fernsehen plötzlich merkte, dass ich die Wohnungstür vorhin, nachdem ich aus dem Keller kam, nicht richtig geschlossen hatte. Kafka war ein enorm neugieriger Kater, der immer, wenn man nicht aufpasste, in den Hausflur entwischte. Dort pflückte ich ihn dann ein Stockwerk höher oder tiefer von der Treppe und brachte ihn zurück in die Wohnung. Er blickte mich dann immer auf eine Art an, die mir wohl klar machen sollte, dass er schon groß sei und durchaus selbstständig das Haus erforschen konnte.

Jetzt war die Tür seit einer halben Stunde auf, und Kafka verschwunden. Ich wusste nicht, ob zwischendurch ein Nachbar eine Haus- oder Hoftür geöffnet hatte – und ich wusste, dass zumindest einer meiner Nachbarn mir ganz sicher nicht Bescheid sagen würde, wenn das Tier an ihm vorbei auf die Straße gelaufen wäre. Ich habe in meinem Leben Bekanntschaft mit Ängsten und irrationalen Zuständen gemacht, doch nie zuvor war die Panik so groß und gleichzeitig gut begründet wie dieses Mal. Denn dies war keine irrationale Angst vor Menschen, sozialen Situationen, vor dem Versagen oder dem Alleinsein, sondern die ganz konkrete Angst, dass Kafka verschwunden war, und sich da draußen nicht im Geringsten zurecht finden würde.

Nach einer Stunde, in den ich jedes Möbel leergeräumt hatte (falls er doch noch in der Wohnung sein sollte), mit jedem Nachbarn gesprochen und die umliegenden Gärten abgesucht hatte, fand ich ihn in einer der hintersten Ecken des Kellers hinter einem Stapel Gerümpel. Die Erleichterung war grenzenlos, und ich war mir sicher, nie wieder so viel Angst um eines meiner Tiere haben zu müssen.

Vor vierzehneinhalb Jahren beschloss ich, eine Katze bei mir aufzunehmen. Kurz zuvor hatte ich ein Kaninchen, dass ich jedoch Allergie-bedingt abgeben musste. Nun sollte es eine Katze werden. Naiv und ohne echte Katzenerfahrung waren damals noch Kleinanzeigen meine erste Anlaufstelle, und ich fand einen Wurf von Kätzchen zum Verkauf. Ich erinnere mich noch an die Wohnung, in der mich zunächst ein großer, freundlicher Husky begrüßte. Die Kätzchen befanden sich in einem dunkelbraunen Körbchen – ein Haufen winziger, wenige Wochen alter Tierchen mit mickrigen Schwänzchen, unbeholfenen Bewegungen und einer aufmerksamen, braun getigerten Mutter mit platter Nase. Die Mutter war ein Perser-Mischling, und an den Kleinen zeigte sich das Erbe dieser Rasse an dem ungewöhnlich fluffigen Fell – die typischen Perser-Gesichtszüge hingegen fehlten den Kätzchen. Der Vater war ein Nachbarskater, über den niemand viel wusste – Geschichten, wie sie sich für kitschige Katzenromane eignen, in der Wirklichkeit jedoch die Naivität von Menschen offenbaren, denen nicht bewusst ist, wie sehr die Spezies unter Überpopulation leidet und wie viel Schaden das Vermehren, Züchten und Verkaufen anrichtet. Ich war selber nicht weniger naiv. Später beschloss ich, sollte ich jemals eine neue Katze haben wollen, diese nur aus einem Tierheim oder ähnlichem zu holen.

„Die sind alle schon verkauft, bis auf die zwei Roten. Die wollte bisher keiner. Na, dann suchen Sie sich mal einen aus.“

So begann es, und ich lernte zwei der wichtigsten Wesen kennen, die je mein Leben bereicherten. Provisorisch hatten „die beiden Roten“ von den Besitzern die Namen Tweety und Bigfoot bekommen, ich nannte den wachen, aufmerksamen Kater Hide (sprich „Hi-De“, nach dem Gitarristen meiner damaligen Lieblingsband „X“), und seinen schüchternen, ängstlichen Bruder Kafka (nach dem Schriftsteller). Ohne es zu merken, muss ich die beiden jedoch irgendwann in den ersten Wochen verwechselt haben – und erst Jahre später wurde mir anhand von Fotos bewusst, dass der, der ursprünglich Kafka heißen sollte nun Hide hieß – und umgekehrt.

Kafka und Hide hatten in den Jahren, die folgten, viele Spitznamen. Einst konnte ich einer etwas naiven Bekannten über Monate glaubhaft machen, Kafka sei die Abkürzung für Kaffee-Katze, und ich würde ihn nur mit Kaffee füttern. Zusammen nannte ich sie oft die „Rote Miau-Fraktion“. Meine Ex nannte sie die „Mini-Katzen“, selbst dann noch, als Hide zu einem stattlichen, regelrecht fetten Kater wurde.

Am Grab meiner Mutter steht geschrieben, dass man oft erst weiß, was man hatte, nachdem man es verlor. Mit Kafka und Hide ging es mir ähnlich – erst als im verfluchten Jahr 2013 eine hässliche Trennung mich an die Grenzen meiner psychischen Belastbarkeit trieb merkte ich, wie wichtig die beiden tatsächlich waren.

Ich liebte sie beide, und bin froh, dass, während mir durch die Trennung zwar auch finanzieller Schaden zugefügt wurde, zumindest keinerlei Rechtsstreit um die Katzen entstand. Dass meine Ex das Interesse an den beiden im gleichem Maße verloren hatte wie an mir, war der große Glücksfall in dieser Geschichte.

Wie gesagt – ich liebte keinen der beiden mehr als den anderen, und doch hatten sie unterschiedliche Wirkung auf mich. Während Hide sich zu einem gemütlichen, freundlichen, etwas naiven Dickerchen entwickelt hatte, das einen ganz wunderbaren Winnie Puuh abgegeben hätte, umgab Kafka immer die Aura eines wachen, klugen Kämpfers. Ich erkannte ihn wieder in Liedern von Samsas Traum, die von Katzen handeln; in literarischen Katzen wie Spiegel, Echo, Francis oder Feuerherz; ich sah in ihm das, was ich gern sein wollte: Stark, klug, glücklich – ein verlässlicher Partner, ein Bruder, ein Held. Mit dem Bild von Kafkas starkem Blick vor Augen überstand ich Zeiten, in denen es mir unsagbar schlecht ging, das Leben mich ermüdete, in denen ich keine Zukunft zu sehen mehr imstande war.

In einem meiner Lieblingslieder heißt es „Warum sind wir noch am Leben, wenn uns nichts und niemand stützt – weil uns eine Katze mehr als alle Menschen auf der Welt beschützt?“. So wichtig mir die wenigen Familienmitglieder und Freunde, die ich noch hatte, auch waren – es waren meine Kater, die mich davor bewahrten, mich ganz aufzugeben. Und während Hide mir Geborgenheit und Liebe zu vermitteln imstande war, gab mir Kafkas Ausstrahlung Stärke und Optimismus.

Fünf Jahre waren uns nach meiner persönlichen Katastrophe noch gegeben. Jahre, in denen Familienmitglieder und Freunde starben; Versuche, wieder eine Beziehung zu beginnen, scheiterten; mein Kater Felix, den ich einst vor dem Tierheim rettete, starb – und immer war Kafka da und schien mir sagen zu wollen, dass ich auch diesen und den nächsten und den übernächsten Kampf überstehen würde.

Der eine Kampf, der dann doch verloren wurde, war am Ende Kafkas eigener. Anfang Dezember wurde er auffällig schwach und zog sich immer mehr zurück. Da er sich so schon ein paar Mal verhalten hatte, aber jedesmal nur ein verdorbener Magen oder etwas ähnlich Harmloses der Anlass war, dachte ich mir erst nichts dabei, ging nach etwa anderthalb Wochen ohne Besserung dann aber doch mit ihm zum Arzt. Zwei Tage später war er tot, zwei Tage, in denen ich Ängste ausstand, wie sie schlimmer nicht sein konnten.

Es war Krebs. Nichts hatte zuvor darauf hingewiesen, und da er an sich immer ein kerngesundes Tier war, war die letzte allgemeine Kontrolle schon eine Weile her. Zu dem Zeitpunkt, zu dem sich das veränderte Verhalten bemerkbar machte, war es eigentlich schon zu spät. Drei Karzinome – Lymphdrüse, Milz, Darm – waren zuviel, als dass irgendein Arzt noch etwas hätte retten können, zumal das problematischste, jenes an der Lymphdrüse, in Ultraschall und Röntgen nicht sichtbar war und sich erst während der Operation zeigt.

Ich mache mir Vorwürfe, dass ich Kafka, nachdem er seine Narkose bekommen hat, nur noch alles Gute gewünscht habe, er aber nicht in meinen Armen einschlafen konnte. Zumindest lag er in seinem Körbchen, ich aber – mag ich mich noch so sehr als Pessimist geben – war fest davon überzeugt, dass er es irgendwie schaffen würde, und konnte mir nicht vorstellen, dass dies bereits seine letzten Sekunden waren.

Ich bin ein emotionaler, sensibler Mensch, aber ich behalte meine Gefühle meist für mich. An diesem Tag habe ich geschrien. Habe Fäuste gegen Wände geschlagen. Habe geheult. Ich hätte die ganze Welt zertrümmert, würde mir ein gütiger Gott dann meinen Kafka wiedergeben. Doch nichts passiert. Das Universum interessiert sich nicht für einen Jungen, der seinen Freund verliert.

Ich werde das ändern. Es sind nur vage Gedanken in meinem Hinterkopf, aber ich will, dass die Welt von Kafka erfährt. Ich weiß nicht in welcher Form. Ich weiß nicht, wie ich das bewerkstelligen werde. Aber ich kann ein hartnäckiger Bastard sein, wenn ich etwas wirklich will. Im „Letzten Einhorn“ heißt es, es gäbe kein Happy End, weil nichts je endet. Auch nicht Kafkas Geschichte.

Auf Dich, mein lieber Freund. Du hast mir das Leben gerettet, ich werde Dein Andenken bewahren.

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