Zweieinhalb Nerds – Der Bochumer Comic-Podcast #2

Fünf Wochen Corona, Ladenschließung, Kontaktverbot – da hat sich nicht viel getan in der Welt der Comics. Was macht man da? Natürlich spielt man „Animal Crossing – New Horizons“. Daher ist diese Folge, in der es nur um Nintendos Waschbär-Kapitalismus-Simulation eher ein kleines Special, auf das wir nach mehreren Wochen auf unseren Inseln einfach Lust hatten. Beim nächsten Mal gibt’s wieder Comics!

Rezension: Last Day Of June

Ich sitze mit meiner Frau am See. Es ist unser See, seit vielen Jahren gehen wir dorthin, machen Picknicks oder lassen einfach nur die Seele baumeln. Sie zeichnet eine Karikatur von mir – als Superheld, der ich, schmächtig, wie ich bin, eigentlich ganz sicher nicht bin. Und sie hat ein Geschenk für mich. Ich weiß nicht, wie sie es an mir vorbei geschmuggelt hat, aber ich habe geahnt, dass sie etwas vorhat. Offenbar hat sie überlegt, wie und wo sie es mir geben soll – zu einem Herz arrangierte Blütenblätter auf der Kommode, ein Stern aus Besteck in der Küche zeugen davon.

 

Plötzlich beginnt es, zu regnen, ein Platzregen, nicht unüblich in dieser Gegend. Wir stehen schnell auf, hasten über das Feld zum Auto, steigen ein, und fahren eilig nach Hause.

Pause without end
A moment in time suspends
How could she leave?

So beginnt Last Day Of June, und selten hat eine so kurze, mit nur wenigen Bildern erzählte Geschichte mit so viel Kraft dargestellt, was es bedeutet, einander zu lieben. Ähnlich wie in dem berühmten Prolog des Films Oben braucht es keine Worte, keine Erklärungen um durch wenige Gesten und Momente zu erkennen, was die Protagonisten dieses außergewöhnlichen Spieles füreinander empfinden. Ohne kitschig zu sein zeigt sich dem Spieler allein durch das Durchstreifen der Wohnung und die kurze Szene am See die augenscheinlich langjährige Vertrautheit der beiden, vermischt mit einer frischen, jugendlichen Verliebtheit.

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, dessen Interesse an Videospielen sicherlich gegen Null tendierte, sagte einmal, es gäbe in der Literatur nur zwei Themen: Liebe und Tod. Wenn dem so ist, könnte auch das praktisch vollkommen ohne Worte auskommende Last Day Of June als Literatur durchgehen, denn kaum kennt der Spieler die Protagonisten, folgt der Schock: Auf der verregneten Heimfahrt verreißt Carl das Steuer, der Wagen bricht aus, es kracht. Kurz darauf sehen wir die Wiederholung einer vorherigen Szene, in der Carl neben seiner Frau June auf dem Sofa sitzt, und der Spieler angehalten wird, sich mit einem Druck auf den A-Knopf vom Sofa zu erheben. Nun jedoch ist das Licht im Wohnzimmer aus, ein feindseliger blauer Schimmer hängt über allem, das Sofa neben ihm ist leer. Erneut soll der Spieler den A-Knopf drücken. Spätestens jetzt dürften zumindest empfindsame Spieler einen brutalen Stich im Herzen spüren, wenn Carl eben nicht aufsteht, sondern mühselig seinen Rollstuhl hinter dem Sofa hervorwuchtet.

Noch etwas schläfrig: Das Ehepaar kurz vor dem Aufbruch zum Picknick am See.

Das Schicksal gibt dem gebrochenen Mann jedoch eine Chance, und hier beginnt das eigentlich Spiel: Carl findet Gemälde, die die verstorbene Geliebte von ihren vier Nachbarn angefertigt hat. Mit ihnen kann Carl auf magische Weise in die Vergangenheit eingreifen – Aufgabe des Spielers ist es nun, die Tagesabläufe der Nachbarn so zu manipulieren, dass sich der Unfall eben nicht ereignet.

Beispielsweise stellt sich heraus, dass ein Kind auf der Straße der Auslöser für den Unfall war: Nun muss der Spieler in typischer Adventure-Spiel-Manier eine alternative Beschäftigung für das Kind finden, welche dieses von der Straße fern hält. Ist dieser Auslöser ausgeschaltet, passiert jedoch etwas anderes, das ebenfalls für den Unfall sorgt – so müssen nun alle vier Tagesabläufe in Einklang gebracht werden, so dass sich letztlich nichts und niemand an der Straße befindet, wenn Carl und June dort vorbeifahren.

Der Nachbarsjunge erkundet seine Umgebung – noch hat er den Fußball dabei, der später zum Verhängnis wird.

Spielerisch eine überschaubare Aufgabe. Die Rätsel sind nicht schwer, und machen ohnehin nur die Hälfte des ansonsten hauptsächlich auf das Vorantreiben der Handlung bedachten Spieles aus. Last Day Of June ist ganz sicher kein Spiel für „Gamer“ – keine Herausforderung, kein Wettbewerb. Vielmehr nutzt es interaktive Möglichkeiten, damit der Spieler den Figuren näher ist. In der Rolle Junes nach einem guten Platz für das Geschenk zu suchen; oder als Carl zu entscheiden, ob man June wohl mit einer gepflückten Blume eine kleine Freude macht ist eine Form der Einbindung, die Filme, Comics und dergleichen eben nicht leisten können.

You’re still alone
So drive home

Last Day Of June basiert auf einem Lied des Musikers Steven Wilson, welches die Rahmenhandlung des Autounfalls vorgibt. Auch das mit klassischem Stop-Motion-Puppentrick vom Studio Owl House produzierte Musikvideo zu Drive Home ist als unmittelbare Vorlage zu verstehen – schon hier findet sich das auf den ersten Blick fast niedliche Figurendesign, das fast völlig auf Mimik verzichtet. Zugegeben, die Charaktere mit ihren leeren Augenhöhlen und ohne Münder können unter Umständen etwas gruselig wirken (man denkt an Coraline und Werke von Tim Burton), aber das ist wahrlich nicht beabsichtigt. Das von Owl House mitproduzierte Spiel, das seine Figuren mit Grafiktricks ebenfalls wie Stop-Motion-Figuren aussehen lässt, gibt sich redlich Mühe, selbst in schrecklichen Szenen eine kindliche, fast niedliche Art Direction zu bewahren.

Wilson-Fans dürften neben Drive Home noch vielmehr in Last Day Of June wiederfinden. Der Soundtrack besteht aus Instrumentalversionen von einem guten Dutzend Songs, und in den Charakteren und ihren Hintergrundgeschichten (die der Spieler ganz nebenbei ebenfalls in wenigen, aber kraftvollen Bildern entblättert) sind zahlreiche Themen von Wilsons fast durchgängig schwer melancholischen bis hoffnungslos anmutenden Liedern vertreten.

Hoffnungslos? Nunja, viele von Wilsons Liedern setzen sich mit dem Thema „Verlust“ auseinander, und fast alle haben gemein, dass nicht das Hoffnungsvolle, Kämpferische im Menschen die Oberhand gewinnt, sondern die Akzeptanz des Unabänderlichen. Was passiert, wenn ein Künstler mit derartiger Weltsicht nun eine Geschichte erzählt, in der es gerade darum geht, nicht zu akzeptieren? Darum, das bereits Geschehene zu korrigieren, das Unglück aus der Welt zu schaffen?

In der Wohnung von Carl und June finden sich ein paar liebenswürdige Hommagen an klassische Malerei.

Selbstverständlich soll hier weder das Ende der Geschichte, noch der Weg dahin, noch die anrührenden Geschichten der vier Nachbarn verraten werden. Dennoch: Das Ende kommt gleichzeitig überraschend und doch vorhersehbar, schlägt einem Hoffnung und Akzeptanz gleichermaßen um die Ohren und lässt den Spieler mit Vielem zurück, über das Nachzudenken sich lohnt.

Last Day Of June wurde von Ovosonico entwickelt und von 505 Games vertrieben. Es ist als Download für Nintendo Switch, PlayStation4 und PC für ca. 19,99€ erhältlich, und freigegeben ab 6 Jahren.