Rezension: Es

Es ist kein Buch über ein kinderfressenden Clown.

Steile These? Natürlich kommt dem Monsterclown ein ordentlicher Anteil des etwa 1600 Seiten starken Romans zu. Aber ihn zum Thema des Buches zu erklären wäre, als beschränkte man man Kafkas Die Verwandlung auf einen Mann, der sich verwandeln kann, oder Alice im Wunderland auf eine Aneinanderreihung alberner Kindergeschichten.

Es handelt von Kindheit und Jugend. Von der Angst, die Sicherheit hinter sich lassen zu müssen, von der Konfrontation mit erschreckenden Veränderungen im Leben – an sich selbst wie am Lebensumfeld – und davon, wie wir als Erwachsene eben doch irgendwann all das vergessen oder verdrängen, was uns als Kindern so übermächtig vorkam. Freunde geraten in Vergessenheit, Bekannte verschwinden, das Magische wird albern und das Alberne verachtenswert.

Wovor hast Du Angst? Erwachsene haben Angst vor Hypotheken, Arbeitslosigkeit, Scheidung, Krankheit. Viel ernstere, realistischere Ängste als die von Kindern, aber doch um soviel beherrsch- und berechenbarer als die Angst vorm Schwarzen Mann, vor dem Monster unter dem Bett, vor den Geräuschen im Keller. Erwachsene Ängste sind konkret, kindliche Ängste sind existenziell.

So zumindest habe ich Es verstanden, und so ist es nach dem ersten Lesen zu einem Buch geworden, dass mich in der Summe mehr berührt hat als jedes andere, und das ich mittlerweile eindeutig als meinen Lieblingsroman bezeichnen kann. Dabei habe ich Es erst vor vier Jahren kennengelernt, als ich selbst längst erwachsen war, und die kleinen Ängste der Kinder auch für mich nur noch dunkle Erinnerung waren. Es hat mich an vieles erinnert: Die erste Schwärmerei für ein Mädchen; das Dilemma, Mädchen doch eigentlich doof finden zu müssen; die Überforderung im Angesicht von Gerüchten über Mörder, die einige größere Kinder gestreut hatten; das ganz reale Mobbing der Schulhof-Rowdys.

Schon in der ersten Verfilmung die prägnanteste Szene: George Denbrough im Gespräch mit Pennywise

Dass ich Es erst vor kurzem zum ersten Mal las, liegt dabei nicht an mangelndem Interesse, sondern an der ersten Verfilmung: Der TV-Zweiteiler mit Tim Curry in der Hauptrolle hat zwar seine schönen Momente, reduziert die Geschichte aber viel zu sehr auf die Oberflächlichkeiten. Dazu kommt: Hier ist kaum etwas gruselig. Schon damals wartete ich insgesamt gut drei Stunden darauf, dass nun endlich mal etwas Schreckliches passiert, davon konnte aber kaum die Rede. So sprach mich Es weder über seine Charaktere an, noch konnte das kaum vorhandene Splatter-Element meine jugendliche Sensationsgier befriedigen.

Mittlerweile sieht das etwas anders aus: Meine Ansprüche an Literatur ebenso wie an Filme sind etwas andere geworden, und kurz, nachdem ich Es zum ersten Mal las, folgte die Meldung, dass eine Neuverfilmung im Gespräch sei. Ein schöner Zufall für mich, der seine Meinung über den alten Zweiteiler auch nach der ersten Lektüre des Buches nicht ändern konnte. Vier Jahre später, in denen ich das Buch gleich mehrmals las, ist die Neuverfilmung von Andrés Muschietti nun da, schlägt einen Rekord nach dem anderen, und versetzt mich in die seltsame Situation, dass nun plötzlich alle wieder über das dreißig Jahre alte Buch reden und mich nach meiner Meinung fragen.

Es, wie es jetzt im Kino läuft, ist dabei nur die erste Hälfte der Geschichte. Im Gegensatz zu vielen anderen Kino-Mehrteilern wurde hier nicht back-to-back gedreht – tatsächlich wurde die Produktion des zweiten Teils erst wenige Tage vor Veröffentlichung des ersten beschlossen, und die Dreharbeiten werden erst 2018 beginnen. Wer das Buch kennt, weiß, das in diesem Fall ein Zweiteiler eine durchaus angemessene Lösung ist, und das nicht nur aufgrund des enormen Volumens des Ausgangsmaterials. Die Geschichte von Es teilt sich in zwei Zeitebenen. In der ersten (1958 im Roman und 1989 im Film) treffen sich sieben Kinder, die alle auf ihre Weise Außenseiter sind, die für ihr junges Alter schon zu viel Schlimmes erlebt haben. Sie alle werden mit dem namenlosen Bösen konfrontiert, welches sie Es nennen, nehmen die Herausforderung aber an, und versuchen, Seinem Geheimnis auf die Schliche zu kommen und es zu besiegen. Das alles, während die „reale Welt“ ihnen das Leben nicht einfacher macht: Pubertät, Mobbing, Missbrauch, Rassismus – Alltag für die sieben Kinder. Der zweite Teil hingegen betrachet das Leben dieser Kinder als Erwachsene, die ihre Kindheit und die schrecklichen Erlebnisse vergessen und verdrängt haben – bis ein Anruf eines alten Freundes mit einem Satz alle Narben aufreißt und an ein altes Versprechen erinnert: „Es ist wieder da.“

Der Club der Verlierer kurz vor dem Ziel. Hier haust Es.

Der Roman verbindet beide Zeitebenen durch regelmäßige Sprünge von Kapitel zu Kapitel. Anfangs lässt sich jedes Kapitel dabei noch enorm viel Zeit für Ausschweifungen in die Stadtgeschichte Derrys oder die Familiengeschichten der Protagonisten, später werden die Abstände kürzer, so dass gegen Ende des Buches beide Zeitstränge auf das Finale zulaufen und man als Leser praktisch zwei „große Endkämpfe“ gleichzeitig erlebt. Wo im Buch somit bis zum Schluss nicht ganz klar ist, ob und wie die Kinder Es besiegen, muss die Verfilmung hier ein Spannungselement der Ordnung opfern: Der aktuelle Film erzählt nur die Geschichte der Kinder, und zwar vom Anfang bis zum Ende. Man weiß automatisch, DASS sie es schaffen, nur das „Wie und zu welchem Preis“ bleibt offen. Teil 2, welcher im Herbst 2019 in die Kinos kommen soll, führt ins dann zu den Erwachsenen, und wird in dieser Verfilmung voraussichtlich im Jahr 2016 spielen (Im Roman war es 1985).

Abgesehen von diesem Eingriff in die Erzählstruktur ist die Verlagerung der Ereignisse um einen „Zyklus“ (Es erwacht immer etwa alle 27 bis 28 Jahre) in Richtung Gegenwart zusammen mit daraus resultierenden Änderungen die größte Freiheit, die Muschietti sich mit Kings Roman erlaubt. Änderungen, deren Akzeptanz sicher auch vom Alter der Leser abhängt. King schrieb Es Mitte der Achtziger – in einer Zeit also, in der die Zeitebene der Erwachsenen der Gegenwart seiner Leser entsprach, und er ebenfalls davon ausgehen konnte, dass die Fünfziger Jahre in der Erinnerung seiner Leser noch aktuell wären. Muschietti erreicht das Selbe mit seinem Film und jenen Zuschauern, die eher in den Achtzigern oder Neunzigern Kinder und Jugendliche waren. Ältere Es-Fans mögen vielleicht etwas enttäuscht sein, die meisten Zuschauer dürften den Film jedoch dadurch als angenehm nostalgisch und die kommende Fortsetzung als zeitgenössisch empfinden und sich gut mit seinen Figuren und seiner Welt identifizieren können – etwas, was mit Kings ursprünglichem Roman aus heutiger Sicht nicht mehr ganz so einfach ist.

Die Kinder ändern sich durch knapp drei Jahrzehnte Verschiebung jedoch kaum: Ihre Charakteristika treffen Muschietti und sein großartiges Ensemble größtenteils unbekannter Kinderschauspieler wie die Faust auf’s Auge. Kleinigkeiten ändern sich natürlich: Richie (gespielt von Finn Wolfhard aus Stranger Things) etwa tauscht sein Faible für Stimmimitationen gegen derbe Witze der Kategorie „Deine Mutta!“ – etwas, was ich in fast jedem anderen Film primitiv und unnötig finden würde, hier aber die Art und Weise, wie sich Kinder seines Alters untereinander verhalten, glaubwürdig trifft. Allenfalls könnte man darüber diskutieren, wie verbreitet dieses Genre von Beleidigung Ende der Achtziger in den USA tatsächlich war. Überhaupt: Wenn Richy über ein versifftes Waschbecken bemerkt, es „sieht aus wie die Muschi Deiner Mutter“ und wir Erwachsenen im Publikum schockiert sind, laufen wir direkt in die Falle, und sind selbst der beste Beweis dafür, dass man als Erwachsener tatsächlich irgendwann vergisst, wie sich Kinder untereinander verhalten. Schon in Kings Roman fand sich derlei mehr als einmal, etwa wenn George und Bill ganz am Anfang ausgiebig darüber diskutieren, wer von ihnen das größere oder braunere Arschloch habe.

Beverly Marsh, in einer Klokabine versteckt vor ihren schlimmsten Peinigern. Nicht Monstern oder Mördern – sondern Mitschülern.

Auch Beverly ist ein bisschen offener und wirkt aufgeklärter. Insbesondere durch diese beiden Figuren bleibt denn auch eine pubertär-sexuelle Spannung im ganzen Film erhalten – auf ihre Art verbergen schließlich beide ihre Unsicherheit hinter dem selbstbewussten Verhalten. Und Kenner des Romans wissen, dass insbesondere Beverlys kindliche Sexualität eine wichtige Rolle spielt – nur, dass die im Romane sehr explizit gehaltenen Szenen in Muschettis Verfilmung fehlen. Zu Recht – nicht alles, was geschrieben und ausformuliert Sinn ergibt eignet sich an Es für eine bildliche Darstellung.

Der Aspekt „Kinder werden Freunde und erleben ein Abenteuer“ von Es ist also hervorragend getroffen – eine Seltenheit, denn schließlich sind die meisten Geschichten ÜBER Kinder auch Geschichten FÜR Kinder, und daher fast zwangsläufig der Forderung unterworfen, einen gewissen pädagogischen Wert zu haben, den Bösen die Möglichkeit der Läuterung zu lassen, und die Guten als Vorbilder taugen zu lassen. In Es sind die Kinder keine Vorbilder (sondern Identifikationsfiguren), und die Bösen wirklich Böse.

Pennywise in neuer Gestalt – die übrigens deutlich eher der Beschreibung im Roman entspricht als Tim Currys Darstellung

Und Es ist eben Es. Es ist ebenfalls der Zeitverschiebung geschuldet, dass bestimmte Formen des Antagonisten nicht mehr auftauchen, und ein paar hinzukommen, aber die wichtigste Seiner Formen ist ohnehin Pennywise, der Tanzende Clown. Er wird gespielt von dem 27-jährigen Bill Skarsgård, der eine umwerfende Performance abliefert. Mit Tim Currys Darstellung kann man ihn schlicht nicht vergleichen, so unterschiedlich sind die beiden Clowns sowohl optisch wie auch in ihrem Verhalten. Für Fans der ersten Verfilmung also sicherlich eine subjektive Wahl, aber objektiv lässt sich an Skarsgårds Pennywise nicht rütteln. Wann immer dieser genügend Selbstkontrolle hat, um einigermaßen menschlich aufzutreten, gibt ihm Skarsgård eine grauenerregende Mischung aus fröhlichem Clown, kleinen Albernheiten, und einer gehörigen Portion dämonischem Wahnsinn. Und wenn dann, im späteren Verlauf des Films, Es immer mehr monströse Formen annimmt, sorgt guter, nicht übertriebener CGI-Einsatz für den notwendigen Schrecken und Ekel. Zwar weicht insbesondere das Finale deutlich vom Roman ab, dennoch sind alle wesentlichen Elemente vorhanden, bis hin zu einem kurzen Blick auf Sein wahres Ich.

Zugegeben: Ich kann Es nicht ganz objektiv beurteilen – zu sehr liebe ich das Buch, und zu gut gefällt mir diese neue Umsetzung desselben. Dennoch, ganz ohne Kritik habe ich das Kino auch nicht verlassen: Da wäre zum Beispiel die Mitte des Films. Dass Georgies Tod zwar naheliegend, aber (im Gegensatz zur Romanvorlage) nicht bewiesen ist, ist eine gute Änderung, die Bill stärker motiviert. Logisch, dass die Kinder dadurch auch schneller zu dem Schluss kommen, Es bekämpfen zu wollen. Doch irgendwie war mir das im Ergebnis doch etwas zu schnell – ein, zwei Schnitte, schon ist aus ein paar locker bekannten Kindern eine Gruppe geworden, die alte Unterlagen wälzt, und ohne lange zu diskutieren übereinkommt, das namenlose Böse jagen und töten zu wollen. Ein bisschen mehr Mit-sich-ringen hätte ich hier gern gesehen.

Und dann ist da noch Patrick Hockstetter. Im Roman die wahrscheinlich düsterste, böseste Figur. Er begeht Taten, die sogar schrecklicher sind als die von Pennywise – den Patrick wird von keinem Instinkt, keinem Hunger, nicht mal simplem Sadismus getrieben. Er – nicht Es – verkörpert im Roman das reine Böse, neben dem selbst Henry Bowsers verblasst. Im Film ist von Patricks abgründiger Persönlichkeit allerdings kaum noch etwas übrig – er wird auf kaum mehr als einen weiteren Kumpanen von Henry reduziert, und so entgeht dem Film völlig, diese spezielle Art von Bosheit weiter zu erforschen. Wahrscheinlich wäre dafür letztlich einfach kein Platz geblieben – aber dann hätte Patrick dem Film auch ganz fernbleiben können.

Ein Beispiel für die vielen, kleinen Details: Die Wand zeigt die Schießerei der Bradley-Bande, bei der Pennywise schon Anfang des Jahrhhunderts seine Finger im Spiel hatte

Es ist ein wunderbarer Film über eine Kinderfreundschaft in den Achtzigern, über Außenseiter, Mobbing, Missbrauch – all die Dinge, die ein Kinderleben im Guten wie im Schlechten prägen. Und natürlich über ein transdimensionales Monster, dass diese Kinder bekämpfen wollen. Gesellschaftsdrama, Abenteuer, Monsterhorror. Für Fans harter Horror-Schocker mag Es sicherlich zu sanft bleiben (auch wenn die FSK-16-Freigabe gut ausgereizt wird), andererseits kann man Es so auch schauen, wenn man Horror eigentlich gar nicht mag, solange man sich von den anderen Themen des Films angesprochen fühlt.

Ich habe noch eine andere steile These: Dieser Film, der voll mit Grausamkeiten verschiedenster Art ist, ist letztenendes ausgerechnet dieses: ein schönes Märchen über die Macht der Freundschaft.

Es läuft seit dem 28. September 2017 in den deutschen Kinos.
Eine Heimvideo-Veröffentlichung ist für den 22. Februar 2018 geplant.
Der zweite Teil soll am 6. September 2019 folgen.

Die Romanvorlage ist seit 2011 in einer neuen, vollständigen Übersetzung von Joachim Körber und Alexandra von Reinhardt als Taschenbuch im Verlag Heyne erhältlich.
Eine ungekürzte, von David Nathan gelesene Hörbuch-Fassung liegt als Download bei Audible und als CD bei Random House Audio vor.

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